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Dr. Walter Korinek

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„Regierung greift Pädagogische Freiheit an“

Bündnis pro Bildung warnt vor Einheitsmethode bei der Gemeinschaftsschule.

In einem Interview äußerte der international renommierte Erziehungswissenschaftler Prof. Dr. Ulrich Trautwein von der Eberhard-Karls-Universität Tübingen Bedenken gegen die Ausrichtung der Bildungspolitik der baden-württembergischen Landesregierung. Er bezeichnete den eingeschlagenen Kurs als „riskanten Sonderweg“ und kritisierte insbesondere, dass im Gegensatz zu fast allen anderen Ländern hierzulande mit der Gemeinschaftsschule eine ideologisch begründete methodische Unterrichtsphilosophie durchgesetzt werden soll. Diese starke Fixierung auf eine Methode sei ein Irrweg und benachteilige vor allem leistungsschwächere Schüler. Diese bräuchten „klare Strukturen und klare Vorgaben sowie viel Zeit zum Üben der grundlegenden Kenntnisse.“

Das Vorstandsmitglied des Bündnisses pro Bildung Dr. Walter Korinek, ebenfalls Erziehungswissenschaftler und als Leiter einer Werkrealschule tätig, unterstrich diese Aussagen. Zusätzlich weist er auf einen bisher wenig beachteten Aspekt hin: „Die Gemeinschaftsschule ist auf eine von der Landesregierung festgelegte Unterrichtsmethode festgelegt. Damit wird ganz elementar in die Pädagogische Verantwortung der Lehrer eingegriffen.“

Im baden-württembergischen Schulgesetz ist festgelegt, dass allein die Lehrkraft in der konkreten WK-RednerUnterrichtssituation über die Unterrichtsmethode entscheiden muss. Damit soll der Vielfältigkeit der Schüler und der jeweils besonderen Situationen Rechnung getragen werden. Die Freiheit der Methodenwahl ist zugleich mit der Verantwortung der Lehrer verknüpft, den besten Vermittlungsweg zu suchen und zu finden. Dem Lehrer ist die pädagogische Freiheit nicht um seiner selbst, sondern allein wegen der ihm anvertrauten Schüler gegeben. Deshalb wird im Schulgesetz diesem Recht, das immer auch eine Pflicht ist, eine ganz besondere Bedeutung eingeräumt. Korinek führt dazu aus: „Eine methodische Festlegung seitens der Schulverwaltung schränkt diese Verantwortung der Lehrer in unzulässiger Weise ein. Damit greift die Politik direkt in den Unterrichtsprozess ein. Ein Lehrer, der auf die Rolle des ‚Lernbegleiters’ festgelegt ist, kann nicht mehr entscheiden, welcher methodische Zugang dem Schüler in der konkreten Situation angemessen ist. Damit wird eine der größten Errungenschaften moderner demokratischer Bildungsansätze direkt angegriffen. Statt der versprochenen individuellen Förderung der Kinder wird so eine Einheitsbeschulung durchgesetzt“

Silke Sommer-Hohl, die Vorsitzende des Bündnisses pro Bildung, fordert die Landesregierung deshalb auf: „Geben Sie im Interesse unser Kinder diese fragwürdige Festlegung auf bestimmte Lernmethoden auf und erhalten Sie die Freiheit in den Schulen!“

Inklusion oder Integration und die politische Kultur. Eine kurze Denkschrift zu einem sensiblen Thema

Von Walter Korinek

Es ist bekannt, dass die inklusive Beschulung von Kindern mit „besonderem sonderpädagogischem Förderbedarf“ (so die rechtliche Formulierung in Baden-Württemberg) mit erheblichen Problemen verbunden ist:

  • Grundlage ist die UN-Konvention zur Rechte von Behinderten von 2006, in der die Pflicht der Staaten herausgestellt wird, die für Menschen mit Behinderungen bestehenden Menschenrechte zu gewährleisten. Im Artikel 24 anerkennen die Vertragsstaaten das Recht von Menschen mit Behinderungen auf Bildung. Um dieses Recht ohne Diskriminierung und auf der Grundlage der Chancengleichheit  zu  verwirklichen,  gewährleisten  die  Vertragsstaaten  ein  integratives  Bildungssystem auf allen Ebenen.
  • Damit verbunden ist die Problematik der Übersetzung des englischen Begriffs „Inclusion“; dies wird ja in den zwei unterschiedlichen Übersetzungen als „Inklusion“ oder „Integration“ interpretiert. Befürworter der Inklusion betrachten Herstellung von Heterogenität in den Schulen als ‚normale‘ und gewünschte Gegebenheit; sie verstehen Schule als ein Modell, das davon ausgeht, dass alle Schüler mit ihrer ganzen Vielfalt an Kompetenzen und Niveaus aktiv am Unterricht teilnehmen. Gegner der Inklusion argumentieren, dass Inklusion keine Methode sei, sondern eine Ideologie, in dem nicht unbedingt das Glück und die Lern-Entwicklung der Schulkinder im Mittelpunkt stehe, sondern die Schule mit Aufgaben betraut, welche der gesamten Gesellschaft aufgegeben sind. Damit würde die Schule von einer Erziehungs- und Bildungsinstitution zu einem Instrument des Social Engineering. Vertreter der Inklusion befürworten eine Abschaffung der sogenannten Förderschulen. Integrative Pädagogik dagegen achtet darauf, Unterschiede und Behinderungen wahrzunehmen und pädagogisch optimal zu behandeln mit dem Ziel der Teilhabe an der Gesellschaft.
  • Nicht zu unterschätzen ist auch bei dieser Thematik der Einfluss privater Einrichtungen – vor allem der Bertelsmann-Stiftung – auf die politische Willensbildung. Kaum eine andere Stimme setzt sich so vehement und medienwirksam für das Konzept der Inklusion und gegen integrative Ansätze ein, als diese Stiftung. Inklusion wird als alternativlos dargestellt und es wird sachlich unangemessen suggeriert, dass es bei einem Entscheidungsprozess zwischen Inklusion und Integration von vornherein keine Alternativen und damit auch keine Notwendigkeit der Diskussion und Argumentation gebe. Auch im Bereich der Integration/Inklusion behinderter Menschen zeigt sich sehr deutlich, die hocheffiziente meinungsbildende Funktion solcher Think-Tanks. Expertenwissen aus der Praxis wird immer mehr unmaßgeblich angesichts der medialen Möglichkeiten dieser Stiftungen und der mit ihnen verbundenen Protagonisten. Problematisch ist dies in besonderem Maße, weil diese Expertisen keiner parlamentarischen Kontrolle unterworfen sind.
  • Nun zeigen sich in der gegenwärtigen Phase der politischen bzw. verwaltungstechnischen Umsetzung durch die Landesregierung auch Probleme, die mit dem grundlegenden Rechts- bzw. Demokratieverständnis zu tun haben. Konkret stellt sich die Frage: Dürfen bestehende Regelungen (Gesetze und andere Rechtsvorschriften) durch die Verwaltung außer Kraft gesetzt werden, indem sie sich auf Absichten der Landesregierung bzw. auf Vermutungen über die Ausgestaltung zukünftig zu erwartender Rechtsänderungen bezieht?

Pädagogische, organisatorische und rechtliche Probleme

In Baden-Württemberg geht man im Moment davon aus, dass die bisher erfolgreich durchgeführte Integration behinderter Kinder und Jugendlicher in die Gesellschaft mit Hilfe von speziellen Sonderschulen falsch ist. Richtig und gut sei dagegen die inklusive Beschulung aller Kinder in der größtmöglichen Heterogenität. In der politischen Werbung für die Gemeinschaftsschule des Kultusministeriums Baden-Württemberg versteigt man sich sogar zu der Behauptung: „Vielfalt macht schlauer“ und bezeichnet alle bisherigen bildungspolitischen Modelle kurz und knapp als „Schwarz-Weiß-Denken“. Ideal sei eine möglichst breite Mischung aller Schüler in einer Klasse. Inklusion statt Integration sei das Gebot der Stunde. Typisch für die bildungspolitische Diskussion unserer Zeit ist dabei, dass solche Aussagen nicht auf wissenschaftlich fundierte Ergebnisse zurückgreifen, sondern politisch gesetzt werden. Hilfestellung und mediale Unterstützung liefern dabei private Einrichtungen wie die einflussreiche Bertelsmann-Stiftung.

Ausgeklammert wird häufig, wie die Regelschule die differenzierte Hilfestellung leisten soll, welche Kinder mit Behinderungen oftmals bedürfen. In der Vergangenheit leistete sich das Land Baden-Württemberg ein hochdifferenziertes Sonderschulwesen, mit dessen Hilfe den Kindern mit sonderpädagogischem Bedarf effektiv geholfen werden konnte, damit sie als Ergebnis dieser Maßnahmen eine optimale Chance auf Teilhabe am gesellschaftlichen Leben haben können. Mit Außenstellen und Außenklassen an Regelschulen wurden – soweit dies möglich ist – auch für die Schüler in ganz individueller Passung partielle und temporäre inklusive Lösungen gefunden. Nun wird als politische Setzung davon ausgegangen, dass Inklusion der wichtigste Teil der Bildung und Erziehung für alle Kinder und Jugendlichen sein soll. Im schlimmsten Fall besteht dabei die Gefahr, dass sowohl die Förderung der Behinderten selbst, wie auch die Bildung und Erziehung der Nichtbehinderten gefährdet wird.

Unabhängig von diesen pädagogischen Fragestellungen zeigen sich aber auch gravierende rechtliche und organisatorische Probleme bei der Umschulungen von Kindern mit besonderem sonderpädagogischen Förderbedarf an Regelschulen. Frühere Schüler einer Sonderschule besuchen jetzt eine Regelschule ohne dass sich an der Diagnostik der festgestellten Behinderung etwas geändert hat. Ausschlaggebend für den Schulwechsel ist lediglich die Einführung inklusiver Modelle.

Ungeklärt bleiben dabei aber Fragen wie:

  1. Hat eine Umschulung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf an eine Regelschule verbindliche Konsequenzen für die Versorgung der Schule mit Sonderpädagogen?
  2. Nach welchen rechtlichen Normen und nach welchem Bildungsplan findet die Leistungsbeurteilung der inklusiv beschulten Schüler statt?
  3. Was geschieht, wenn ein Schüler den Leistungsanforderungen der Regelschule nicht gewachsen ist?

Nach den geltenden schulrechtlichen Regelungen in Baden-Württemberg gilt:

„Das Schulwesen des Landes gliedert sich, … in verschiedene Schularten; sie sollen in allen Schulstufen jedem jungen Menschen eine seiner Begabung entsprechende Ausbildung ermöglichen.“ Zwar formuliert das Schulgesetz in §15, Abs.4 ausdrücklich „Die Förderung behinderter Kinder ist auch Aufgabe der anderen allgemeinen Schularten…“. Der gleiche Absatz schränkt jedoch ein „…wenn sie aufgrund der gegebenen Verhältnisse dem jeweiligen gemeinsamen Bildungsgang in diesen Schulen folgen können“ (ebd.). Schülerinnen und Schüler, bei denen mangelnde „Förderungsfähigkeit“ zugeschrieben wird, haben die Pflicht „zum Besuch der für sie geeigneten Sonderschule“ (SchGBW §82, Abs.1). Über die „Pflicht zum Besuch“ und die Art des Sonderschultyps „…entscheidet die Schulaufsichtsbehörde“ (SchGBW §82, Abs.2).

Die Versetzungsordnungen aller Regelschulen sehen keine zieldifferente Förderung vor; Ressourcenzuweisungen für Kinder mit besonderem Förderbedarf an die allgemeine Schule sind nicht vorgesehen; da es keine fest angestellten oder verfügbaren Sonderpädagogen an der Regelschule geben darf.

Noch unter der alten Landesregierung wurden 5 Schwerpunktregionen bestimmt, in denen das Schulgesetz außer Kraft gesetzt wurde. Diese Schwerpunktregionen sind aufgefordert, neue Schulangebote für Kinder mit und ohne sonderpädagogischen Förderbedarf zu erproben. Außerhalb von Modellregionen bewegen sich die jeweiligen Schulen und die Schulverwaltung oftmals am Rande der Legalität. Nun wird auch außerhalb dieser Modellregionen die inklusive Beschulung von der Schulverwaltung stark forciert. Wenn aber unter Bezug auf Begriffe wie „innere Differenzierung“, „zieldifferente Förderung“, „Inklusion“ ohne rechtlich-demokratische Legitimation – sprich: formale Aufhebung der rechtlichen Richtlinien etwa für einen Schulversuch gemäß § 22 Schulgesetz  durch das Parlament bzw. die entsprechenden demokratisch kontrollierten Gremien – auch im Bereich der sonderpädagogischen Förderungen ein Modell der Maximal-Heterogenität eingeführt werden soll, ist dies in Bezug auf unser Demokratieverständnis höchst bedenklich.

Rationalität statt Ideologie

Es ist klar, dass alles, was mit dem hochemotional besetzten Begriff der Inklusion verbunden ist, ein äußerst komplexer Bereich ist und von vielen Vorstellungen geprägt ist. Umso wichtiger ist es, dass auch solche hochkomplexen Gebiete mit Rationalität und rechtsstaatlichen Prinzipien durchdrungen werden. Sicher hat nahezu niemand in unserem Land irgendwelche Einwände gegen die Teilhabe behinderter Menschen an allen Lebensbereichen und die Schule ist sicher nicht einer der Unwichtigsten davon. Aber gerade deshalb dürfen nicht unter dem Vorwand von Humanität schulpolitische Ideen des angeblichen Vorzugs maximaler Heterogenität in der Bildung ohne demokratische und rechtliche Legitimation durchgesetzt werden.

Von pädagogischer Seite muss aber auch immer wieder die Frage gestellt werden, mit welchem System man den Kindern und Jugendlichen – und damit sind alle Menschen mit und ohne Behinderungen gemeint – am besten eine ihnen gemäße Bildung und Erziehung gewährleisten kann. Dabei hilft es wenig, ideologische Thesen schlagwortartig auszubreiten und so rasch wie möglich vollendete Tatsachen zu schaffen. Den „vollen und gleichberechtigten Genuss aller Menschenrechte und Grundfreiheiten durch alle Menschen mit Behinderungen zu fördern, zu schützen und zu gewährleisten und die Achtung der ihnen innewohnenden Würde zu fördern … [und] die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft“ sicher zu stellen – so die UN-Konvention – ist ein unstrittiges Ziel. Offen bleibt die Frage, wie dies erreicht werden kann. Integrative Förderung setzte sich diese Formulierungen schon immer zum Ziel. Sie war sich aber bewusst, dass dies durch Förderung und Hilfe unter genauer Wahrnehmung der  langfristigen körperlichen, seelischen, geistigen Defizite oder Sinnesbeeinträchtigungen geschehen muss, welche Behinderte in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können. Integration wird immer als ein Prozess gesehen. Inklusive Systeme dagegen setzen den Schwerpunkt auf die sofortige Durchsetzung der Teilhabe schon im Schulalter.

Es kann nicht oft genug betont werden, dass sich das Bildungssystem nicht dazu eignet, gesellschaftliche und politische Streitigkeiten auszutragen. Bevor man in diesem Feld Neues einführt, muss sehr sorgfältig geprüft werden, ob dieses tatsächlich und beweisbar zu einer besseren Bildung und Erziehung beiträgt.

Vom Unsinn der Hierarchisierung einer Bildungslandschaft

Seit neben den Lateinschulen des Mittelalters – einhergehend mit der Reformation –  die Volksschulen entstanden, gibt es eine Hierarchie des Schulwesens. Diese stimmte im vorindustriellen Zeitalter mit der gesamtgesellschaftlichen Struktur überein. Das immer selbstbewusster werdende Bürgertum schuf dann in der Neuzeit und später mit der Industrialisierung das Gymnasium und die Realschule als neue Bildungseinrichtungen, die den gesellschaftlichen Bedürfnissen besser entsprachen, als die antiquierte Lateinschulen oder die minimalistischen Schule-2Volksschulen. Ein gegliedertes Schulwesen entstand.

Kennzeichen dieser Emanzipation der Bildung war, dass die Schularten eigentlich nicht hierarchisch gedacht waren, sondern auf verschiedene und unterschiedliche beruflich/soziale Rollen vorbereiten sollten. Besonders gut gelang dies den im ausgehenden 19. Jahrhundert geschaffenen Real-Gymnasien, aus denen die naturwisssenschaftlichen Züge dieser Schulart hervorgingen. Aber auch die Mittelschule, die an den tatsächlich existierenden beruflichen Problemen ausgerichtete Realschule genoss bis in die jüngste Vergangenheit einen guten Ruf. Die Volksschule, seit Ende der 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts, in die Hauptschule umbenannt, war als Vorbereitungsstätte für gewerblich-handwerkliche Berufe ebenfalls  anerkannt.

Erst seit im Gefolge der 68er-Bewegung die gesellschaftliche Stimmung durch eine – mehr oder weniger – tiefgreifende Theoretisierung und Intellektualisierung geprägt wurde (Anspruch und Wirklichkeit klafften auch damals schon sehr auseinander), geriet die Hauptschule immer mehr ins Abseits. Interessant ist, dass die Hierarchisierung der Schularten damit einhergehend, immer mehr zunahm. „Schick‘ dein Kind auf bessere Schulen!“ – dieser Slogan von Georg Picht aus dieser Zeit mag als Indiz dafür gelten. Parallel zum Schulwesen geriet allerdings auch die berufliche Bildung immer mehr in einen Abwärtstrend – eine Hochschule zu absolvieren galt und gilt seit dieser Zeit als Ziel der überwiegenden Mehrzahl von Bildungslaufbahnen. Didaktische Axiome, nach denen jedes Kind bei entsprechender Förderung alles lernen könnte, unterstützten diese Tendenz.

So ist es nicht verwunderlich, dass die Hauptschulen jedes Jahr etwa ein Prozent an Akzeptanz einbüßten. Alle Rettungsversuche für diese Schulart halfen nichts. Und so kam es zur absurden Situation, dass gerade in dieser Schulart, wichtige pädagogische Innovationen wie projektorientierte Verfahren, persönlichkeitsorientierte Lernverfahren eingeführt, erprobt und installiert wurden, die später in den anderen Schulen übernommen wurden – gleichzeitig aber wurde diese Schule in immer stärkeren Maß als unterste Hierarchieebene der Bildungslandschaft von Eltern, der Presse und dem gesellschaftlichen Umfeld wahrgenommen.

Nun wird von der Bildungspolitik die Abschaffung dieser Schule eingeleitet. Ziel ist es, ein gemeinsames Schulmodell für alle Kinder und Jugendlichen einzuführen. Im rot-grün regierten Baden-Württemberg wird seit dem Machtwechsel energisch darauf hingearbeitet und „Gemeinschaftsschulen“ als Non-plus-ultra der pädagogischen Diskussion dargestellt. Ein wichtiger Schritt auf diesem Weg war die Aufhebung der Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung, die bisher durch ein ausgeklügeltes Diagnose- und Beratungsinstrumentarium für eine gewisse Regulierung der Bildungswege sorgte.

Durch die Aufhebung aller Zugangsgrenzen zur RS und GY wurden die HS/WRS systematisch dem Untergang preis gegeben. Damit wird aber natürlich auch die RS durch die völlig veränderte Schülerzusammensetzung so tiefgreifend verändert, dass das bisherige Konzept dieser Schulart nicht mehr funktionieren kann. Etwas zynisch könnte man sagen: toll eingefädelt! So entsteht de facto „ganz von selbst“ durch Eltern“wunsch“ ein „Zwei-Säulen-Modell“ aus Gy und R(est)S, ohne dass man diese Schulart notwendigerweise Gemeinschaftsschule nennen muss. Wie sagte man nach Herbert Marcuse in den 70ern: Die Macht des Faktischen siegt.

schularbeitLeider hat die Vorgängerregierung allerdings auch versäumt, das gegliederte Schulsystem richtig zu stützen, indem man  der Werkrealschule ein klares Profil (z. B. Schule mit einem Profil für Ausbildungsberufe im Handwerk, Gewerbe, sozialpflegerischen Berufen und Einzelhandel) gegeben hat und so vielleicht die Hierarchisierung ein wenig aufgehoben hätte. So ist es klar: Wenig Eltern wählen für ihr Kind freiwillig die „unterste“ Stufe einer Bildungspyramide. Damit meine ich: wenn man ein gegliedertes Schulsystem erhalten will (und ich halte dies für wichtig), dann muss man alles versuchen, um die unsinnige Stufung HS/WRS – RS – GY nach außen aufzuheben und stattdessen unterschiedliche pädagogische Ziele der einzelnen Schularten setzen. Beim GY ist es ja immer schon klar:  Studierfähigkeit – und das ist allgemein akzeptiert; bei der RS ist es schon schwieriger (früher war es mal die kaufmännische Schule, heute ist es wohl eher in Verbindung mit dem beruflichen Schulwesen so etwas wie das G9). Aber die HS/WRS ließen bisher alle Bildungspolitiker hinsichtlich der Darstellung der Zieldimension im Regen stehen; so war und ist es kein Wunder, dass diese Schulart von Eltern als „Restschule“ angesehen wurde und wird. Wohlgemerkt, das hat nichts mit den Bildungsplänen und mit der tatsächlichen Arbeit an dieser Schulart zu tun. In der Praxis ist es ja so, dass die HS/WRS enorm viel für die Ausbildung von Facharbeitern in Industrie und Handwerk getan haben. Aber so wurde es eben nicht dargestellt.

Angesichts dieser Pläne wird die Umgestaltung des erfolgreichen Bildungssystems in BW besiegelt. Leider wird dabei allerdings auch die Zieldimension schulischer Bildung gleich mit eingeebnet. So positiv die mit einer Einheitsschule einhergehende Nivellierung von Hierarchisierungen ist, so negativ ist der mit der Gemeinschaftsschule verbunden Verzicht auf eine Begabungsdifferenzierung und eine propädeutische Berufsorientierung. Diese gab gerade in den Hauptschulen/Werkrealschulen den Kindern und Jugendlichen, die in ihren Denkstrukturen nicht überwiegend theoretisch ausgerichtet sind, einen sicheren Boden und vermittelte ihnen Erfolgserlebnisse. Gleichzeitig legte diese Art von Propädeutik den Grundstein für das weltweit anerkannte und sehr effektive duale Ausbildungssystem in der Berufsbildung.

John Hattie und erste Konsequenzen

„Wir diskutieren leidenschaftlich über die äußeren Strukturen von Schule und Unterricht“, kritisiert John Hattie. „Sie rangieren aber ganz unten in der Tabelle und sind, was das Lernen angeht, unwichtig.“

(wk) Auf diese knappe Formel lassen sich die Ergebnisse der Studie bringen, Schulbilder-web-13die der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie in einer Untersuchung mit 250 Millionen Schülern herausgefunden hat (http://www.visiblelearning.de/schlagwort/john-hattie/).

Insgesamt fasste er mehr als 800 Metaanalysen, die wiederum 50000 Einzelstudien aufgreifen, zusammenfassen und untersuchte die einfache Frage: Was ist eigentlich guter Unterricht.

Und was ist das für die Wissenschaft so überraschende Ergebnis? Es ist nicht die Schulform, das Lieblingskind deutscher Bildungspolitiker, welches den Lernerfolg maßgeblich beeinflusst. Es stellt sich nicht die Frage, ob etwa eine Gemeinschaftsschule einem mehrgliedrigen Schulsystem über- oder unterlegen ist. Nicht einmal die so oft herangezogene Ausstattung der Schulen oder der ewige Zankapfel Klassengröße entscheidet darüber, wie viel Schüler lernen. Entscheidend ist nach John Hattie vor allem die Unterrichtsqualität der Lehrerinnen und Lehrer in den Klassen.

Was ist ein guter Lehrer?

Er fand heraus, dass vor allem Elemente maßgeblichen Einfluss auf den Lernerfolg der Schüler haben, die im pädagogischen Handeln des Lehrers liegen. Das Bild eines erfolgreichen,  das heißt nachweislich wirksamen Lehrers, überrascht durch ungewöhnlich starke Betonung auch emotionaler Qualitäten. So  betont er nicht nur die Notwendigkeit des Engagements, sondern spricht auch von der Notwendigkeit  eines leidenschaftlichen Handelns in der Pädagogik mit einer ansteckenden Wirkung.  Gefragt sind Lehrer, die „ihre Fächer“ nicht nur beherrschen, sondern lieben und so ansteckend auf ihre Schüler wirken.Schulbilder-web-10

Wissen wir alle das nicht aus der eigenen Schulzeit? Erinnern wir uns nicht genau an diese Lehrer, wenn wir in Gedanken zurückwandern? Und sind es nicht genau diese Lehrkräfte gewesen, bei denen wir am meisten gelernt haben?

Hattie weiß auch, dass Schüler und Lehrer sehr unterschiedlich sind. So betont er die Notwendigkeit, dass beide Lernpartner sich ihrer Individualität bewusst sind. Dabei muss der Lehrer das Geschick haben, sein Handeln bewusst so zu steuern, dass er den Lernprozess aus der Perspektive aller seiner Schüler wahrnimmt. Aus dieser Wahrnehmung heraus muss er angemessene Herausforderungen vorgeben, Vertrauen in deren Erreichbarkeit vermitteln und regelmäßig allen Schülern Rückmeldungen zu geben.

Ein guter Lehrer vermittelt seinen Schülern erfolgversprechende Lernstrategien und hilft auf methodisch geschickte und menschlich annehmbare Weise weiter.

Was sind Konsequenzen?

Nehmen wir die Ergebnisse der Studie ernst, so müssen wir alle Abstand nehmen von den Diskussionen über Schularten, Schulstrukturen und uns alle wieder konzentrieren auf das, was Lehren und Lernen ausmacht – die Situation im Klassenzimmer.

Lernen geschieht in einer direkten Interaktion zwischen Kindern und Jugendlichen und einem Lehrer, der seine Klasse im Griff und jeden Einzelnen stets im Blick hat. Er ist nicht Lernbegleiter, sondern ein Mensch, der etwas weiß und kann und von seinen Schüler in fachlicher und menschlicher Weise respektiert und gemocht wird. Folgt man den Ergebnissen der Studie, dürfen selbstredend Unterrichtsformen wie etwa das „Kooperative Lernen“ oder selbstorganisiertes Lernen“nicht als dogmatische Setzungen vorgeschrieben werden, wie dies beispielsweise zur Zeit bei der Einführung der Gemeinschaftsschule in Baden-Württemberg praktiziert wird und als Paradigmenwechsel in der Schulpädagogogik angepriesen wird.

schularbeitEine solche Hinwendung zu dem, was erfolgreiches Lernen ausmacht, bringt es allerdings auch mit sich, dass die leidigen Diskussionen über gute oder schlechte Schulformen überflüssig werden. Vielleicht gelingt es so, dass auch Eltern sehen, dass es nicht darauf ankommt, welches Etikett einer Schulart den Schulnamen ziert (oder diskriminiert), sondern ob die Lehrkräfte einer Schule sich erfolgreich bemühen, dass die Kinder und Jugendlichen dort sich wohlfühlen und das lernen, was ihnen möglich ist.

Zieht man ein erstes, vorsichtiges Résumé, kann man sicher eines schon sagen: John Hattie ist es zu verdanken, dass der Blick auf schulisches Lernen in Deutschland wieder ein wenig mehr von Realismus und Praxiserfahrung geleitet werden kann. Man darf gespannt sein, wie die Erziehungswissenschaft, die Bildungspolitiker und die Kultusbürokratien mit diesen Erkenntnissen umgehen werden. In jedem Fall können sich die vielen guten Lehrerinnen und Lehrer an den Schulen aller Schularten, die häufig genug erfolgreich arbeiten, durch die Ergebnisse der Studie bestätigt fühlen und bekommen dadurch den Rücken frei, sich unabhängig von ideologisch geprägten Vorgaben, sinnvoll und reflektiert ihrer täglichen Arbeit zu widmen. Lernen geschieht im Klassenzimmer in einer direkten menschlichen Begegnung zwischen Lehrer und Schülern – das ist es, was durch John Hattie wieder neu in den Blick kam. Dafür sei ihm gedankt!

Auf die Lehrer kommt es an – Ergebnisse der Hattie-Studie an über 80 Millionen Schülern

Die Qualität der Lehrer ist entscheidend – nicht die Schulart

Der 9-jährige Jan wird nach Abschluss einer Unterrichtssequenz in der Feedbackrunde gefragt, wie ihm die bisherige nach den Grundsätzen des Kooperativen Lernens konzipierte Unterrichtsstunde gefallen habe. Er antwortet: „Das war spitze, denn die Mädels haben meine ganze Arbeit gemacht.“ Man könnte dies als Anekdote abtun, wenn man nicht ahnen würde, dass der Kleine unbewusst viel Wahres ausgesprochen hat – und so die Aussage als „Critical-Incident“ bewertet werden kann. Als solches werden in der empirischen Sozialforschung Ereignisse definiert, die als Einzelfall ein symptomatisches Licht auf komplexe Zusammenhänge werfen. Allzu oft arbeiten in kooperativen Lernformen die leistungsorientierten Schüler und kommen auch unbestritten zu Lernerfolgen, während weniger zielgerichtete Kinder und Jugendliche sich zurücklehnen und anderen die mühsame Arbeit überlassen. [1]

Die in Baden-Württemberg von der rot-grünen Landesregierung propagierte Gemeinschaftsschule wird als Paradigmenwechsel in der Pädagogik angekündigt. Kernansatz ist das Konzept des selbstorganisierten Lernens in Verbindung mit Ansätzen des sogenannten „Kooperativen Unterrichts“ nach Norm und Kathy Green aus Kanada. Beides wird nicht nur in teuren Hochglanzbroschüren und Imagevideos angepriesen, sondern ist auch erforderlicher Grundansatz im Überprüfungsverfahren für Schulen, die in diese Schulform umgewandelt werden sollen.

Interessant erscheint in diesem Zusammenhang allerdings ein Forschungsergebnis von John Hattie, Professor für Erziehungswissenschaft in Auckland und Direktor des Melbourne Education Research Institute. In einer Meta-Meta-Analyse (What works, 2009) hat er empirische Befunde zu den Einflüssen auf das schulische Lernen und Leisten zusammengetragen. Damit wurden Forschungsergebnisse aus der Untersuchung von mehr als 80 Millionen Schülern und der Zusammenschau von mehr als 50.000 kleineren Studien zusammengestellt.

Signifikant deutlich erwies sich von den Faktoren Schüler, Eltern, soziale Herkunft, Schule als Organisation, Curricula, Unterricht und Lehrer der Einfluss der Lehrer als mit Abstand am größten. Hattie zieht den Schluss: Lehrer müssen direktiv, einflussreich und fürsorglich sein. Entscheidend für den Schulerfolg ist die Qualität der Lehrer-Schüler-Beziehung, die Qualität der Anleitung sowie des Korrigierens und des Feedbacks. Lehrer müssen die Ziele ihres Unterrichts klar sein und Kriterien und Indikatoren für Lernerfolge deutlich machen. Entscheidend für die Qualität von Unterricht ist wie engagiert eine Lehrkraft sich mit pädagogischem Ethos und Fürsorglichkeit in Unterrichtsprozesse einbringt, wie er eigene Fachkenntnisse und Begeisterung für seine Unterrichtsinhalte ausstrahlt, dies alles in einem strukturiert angelegten Unterrichtsprozess vermittelt und es vermag, mit seinen Schülern in Beziehung zu treten.[2]

Dies ist diametral dem Bild des nun in Baden-Württemberg angestrebten „Lern-Begleiters“, „Lern-Coach“ – und wie die Bezeichnungen sonst heißen mögen – entgegen gesetzt. Hier wird das Idealbild einer sich weitgehend zurücknehmenden Lehrkraft gesetzt, welche zwar Unterrichtsofferten macht und Hilfen anbietet, sich aber sonst eher zurückhält. Im Mittelpunkt des Unterrichts sollen statt dessen die motivierten Schüler stehen, die selbstorganisiert und eigenständig aus zahllosen Arbeitsblättern und anderen Angebotsmaterialien ihr Wissen und ihre Bildung zimmern.

Eigentlich ist es schade, dass hierzulande die Hattie-Studie so wenig bekannt ist – nicht wahr? Mehr zu den Studien von John Hattie gibt es hier: http://www.visiblelearning.de/

Gebrauch der digitalten Medien verändert Lernverhalten

Ein Bericht der New York Times lenkt die Aufmerksamkeit auf Hinweise,  dass der Gebrauch der digitalen Medien Veränderungen imschularbeit-2 Lernverhalten mit sich bringt: Forschungen zeigen, dass Effekte im Verhalten von Schülern, der Aufmerksamkeitsspanne und der Konzentationsfähigkeiten nachweisbar sind. Aussagen von Lehrkräften unterstützen diese Ergebnisse und verweisen auf Beobachtungen, dass die Fähigkeiten zu schreiben und in der direkten zwischenmenschlichen Kommunikation beeinträchtigt sind. Hier einige wichtige Zitate in Kürze:

„But there is mounting indirect evidence that constant use of technology can affect behavior, particularly in developing brains, because of heavy stimulation and rapid shifts in attention. „

„Similarly, of the 685 teachers surveyed in the Common Sense project, 71 percent said they thought technology was hurting attention span “somewhat” or “a lot.” About 60 percent said it hindered students’ ability to write and communicate face to face, and almost half said it hurt critical thinking and their ability to do homework.“

Zum Artikel der New York Times vom 1.1.2012:

http://www.nytimes.com/2012/11/01/education/technology-is-changing-how-students-learn-teachers-say.html?pagewanted=1&_r=0

Realismus in der Bildungspolitik

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Häufig wird in der Diskussion über sogenannte „neue Lernformen“ das Loblied auf selbstorganisiertes Lernen gesungen. Immer wieder wird z B. in der Debatte um die Einführung der Gemeinschaftsschule der Paradigmenwechsel schulischen Arbeitens betont. Allerdings wird bei dieser Argumentation häufig übersehen, dass selbstverantwortliches Lernen das Ziel und Ergebnis schulischer Lernprozesse ist und nicht die Voraussetzung schulischen Arbeitens.

Ergänzend meine ich, dass die Strukturdebatte in Deutschland nicht ideologisch zu betrachten ist.schularbeit Schule, Erziehung und Bildung brauchen einen ruhigen, realistischen Blick auf Kinder und Jugendliche, Stabilität und langsame Anpassung. Dabei muss immer ein ständiger Austausch zwischen Theorie und Praxis gewährleistet sein. Problematisch ist es, wenn – so erlebe ich es zur Zeit bei der Gemeinschaftsschuldebatte – eigentlich unstrittige Punkte wie selbstorganisiertes Lernen, Lernen durch Lehren, individualisiertes Lernen vom Ziel von Erziehung und Bildung zur selbstverständlichen Voraussetzung von schulischen Lernprozessen erklärt wird. Dies entspricht nicht den realen Lebensbedingungen von Jugendlichen unter der Voraussetzung von Pubertät, der Suche nach Anerkennung durch Gleichaltrige, gesellschaftlich bedingten Ablenkungen wie Mode, Konsum etc.. Jugendliche kommen nicht immer nur voller Lernbegierde in den Unterricht und arbeiten von sich aus selbstbestimmt. Wenn es heißt: „… die Gemeinschaftsschule bietet eine anregende Lernumgebungen an, in denen voneinander und miteinander zielorientiert und selbstverantwortlich gelernt, gearbeitet, gespielt, gelacht und gefeiert wird und in der jeder Einzelne seine Talente entfalten kann.“, ist das sehr erfreulich. Nicht vergessen darf man aber, dass Lernen immer auch mit Arbeit und Mühe verbunden ist. Lernen kann Freude bereiten, wenn man Erfolge feststellt. Schule ist mehr als die Bereitstellung von Lernumgebungen und kommt nicht umhin, auch Tugenden und Werte wie Anstrengungsbereitschaft, Annehmen von Herausforderungen, Disziplin, Akzeptanz von Regeln und Normen zu fordern und zu fördern.

Schule-31Dass individuelles Lernen, Selbstverantwortung, Kreativität, Vielfalt der Wege des Lernens, verständnisvolles Miteinander, Lachen und Feiern dabei nicht zu kurz kommen, ist (hoffentlich) ebenfalls auch jetzt schon Alltag in jeder Schulart.

Zwei starke Partner

Bildungspolitsche Diskussionen werden zur Zeit vor allem ideologisch geführt. Allzu häufig haben die Reformer, welche das Schulsystem mit dem Impetus neuer Heilslehren umkrempeln wollen, nicht gerade ein Übermaß an Einblick in die Praxis. Hier ein Blick in den Alltag einer schlichten Werkrealschule aus Baden-Württemberg, von der die Kultusministerin sagte, dass diese Schulart keinen Platz mehr hätte in der Bildungslandschaft:

Identität und Pädagogik in der Schule

Elemente einer humanistischen Pädagogik

Pädagogisches Handeln – aber auch Systemgestaltung wie dies Schulentwicklung darstellt – ist als eine indirekte kommunikative Beziehung zwischen einem in Freiheit entscheidendem Individuum und seinem Umfeld zu sehen. Lehrer können eine Schule so gestalten, dass sie emotionale, kognitive und aktionale Anreize bietet. Sie  können eine Atmosphäre gestalten, die gewünschte Entwicklungen fördert und unterstützt. Im Unterricht können sie Angebote zu Denkleistungen und Handlungsversuchen anbieten. Aber es muss immer klar sein, dass Lehrer die Schülerinnen und Schüler nie im direkten Verhältnis zur Annahme von Wissen oder Haltungen bewegen können; immer ist es Sache des Lernenden, ob und wie er etwas auf- und annimmt und es in sein Weltbild integriert. Im pädagogischen Handeln wie auch in Prozessen der Schulentwicklung verbietet sich jedes mechanistische Verständnis menschlichen Handelns. Ein Denken in den Kategorien von „Input – Output“ oder  „Benchmarking“ im Sinne von Ausrichtung an angeblich besonders effizienten linear-zweckrationalen Vorgehensweisen führt im Bereich sozialen Handelns begriffen als Entwicklung des Menschen nicht zu den gewünschten Resultaten, allenfalls zu Verbiegungen und pathologischen Verhältnissen. Der Mensch – Schüler wie Kollege oder Elternteil – ist immer als autonomes, selbstbestimmtes Freiheitswesen zu sehen, der in einem kommunikativen Prozess Entscheidungen treffen muss, die dann wieder auf seine Umgebung rückwirken.

Aus diesen Gründen ist es die Aufgabe der Pädagogen, in unseren Schulen eine anregende Lernkultur zu schaffen, die es den Schülern erlaubt und nahelegt unter Berücksichtigung ihrer alters- und entwicklungsgemäßen Voraussetzungen Erfahrungen zu sammeln und zu verarbeiten.  Unter Berücksichtigung der subjektiven Verankerung alles Lernens können sie dann in einer angemessenen pädagogischen Atmosphäre leben, emotionale Empfindungen erleben und ihnen Ausdruck verleihen. Die Schule muss es ermöglichen, subjektiv Gedachtes und Gefühltes zu diskutieren, zu besprechen und entsprechend den gemachten Lern- und Lebenserfahrungen handelnde Versuche zur Objektivierung des eigenen Weltbildes zu unternehmen.[2]

Interaktionismus und Konstruktivismus als Weg der Erkenntnis

Die Wirklichkeit besteht aus der Alltagswelt mit darin eingebetteten „Sinnprovinzen“, d.h. in sich relativ geschlossenen sinnerfüllten Strukturen. Bei stärkster Anspannung des Bewusstseins, voller Wachheit des Geistes, wird die oberste Ebene der Wirklichkeit wahrgenommen. Sie wird im Hier und Jetzt erfahren, als objektiviert und vorarrangiert wahrgenommen. Wir könnten jedoch in einer solchen  individualisierten Welt nicht handeln, wenn es nicht ein „Jedermannwissen“, einen intersubjektiv erfahrbaren Teil der Alltagswelt als sozial konstruierte Wirklichkeit gäbe. Soziale Regeln, Symbole, kurz alle gesellschaftliche relevanten Dinge des Zusammenlebens, beruhen auf einer Übereinkunft. Sie sind gesellschaftlich konstruiert. Searle weist darauf hin, dass eine Banknote als „reine, rohe Tatsache“ erst einmal nichts anderes als ein Stück Papier ist, seine Bedeutung als Geldschein erhält sie erst durch einen sozialen Konsens.[3] Letztlich ist der 10 Euro-Schein in unserem Portemonnaie eben kein Stück Papier, sondern ein gesellschaftlich definierter Wertgegenstand – ein soziales Konstrukt. Durch die Tatsache, dass die Kenntnis davon aber zum alltäglichen Jedermannwissen gehört, geraten diese Tatsachen im Regelfall in Bereiche des Unbewussten. Wir kaufen mit dem Geldschein ein und erhalten selbstverständlich dafür Lebensmittel, ohne dass es den bei diesem Handel Beteiligten in den Sinn kommt, ihre Alltagswirklichkeit auf die dahinter verborgenen konstruktivistischen Hintergründe zu befragen. Die Handlung des Kaufs, die Interaktion der Beteiligten, erhält ihren Sinn durch die Bedeutung, welche die Dinge – hier unser Geldschein – für die Menschen haben. Die Bedeutung selbst ist in der sozialen Interaktion entstanden oder wurde aus ihr abgeleitet; in einem interpretativen Prozess wird sie bei Bedarf auch abgeändert.[4]

Diese Anschauung  hat eine hohe Relevanz als Konzept zur Erschließung sachlicher Inhalte und ist Grundlage vieler moderner didaktischer Ansätze. Darüber hinaus plädiere ich aber auch dafür konstruktivistische Ansätze im direkten Führungshandeln des Lehrens und Erziehens anzuwenden. Will man beispielsweise die Intentionen einer Person ergründen, sie mit einem „werterkennenden Blick“ wahrnehmen, heißt dies also nach dieser Ergänzung nichts anderes, als mit äußerst wachem Bewusstsein die Konstruktionen der Wirklichkeit und den Symbolgehalt der Interaktionen dieses Menschen zu entschlüsseln. Sie müssen de-konstruiert werden. Man kann dies natürlich auch mit einem Bild  ausdrücken: Will ich einen Menschen verstehen, muss ich in seinen Schuhen gehen. Es ist demnach Aufgabe eines Erziehers, sich intensiv mit den Konstruktionen der Identitäten seiner Schüler zu befassen, um daran ansetzen zu können.

Dazu gehört, dass sich der Betrachter über seine eigenen Konstruktionen und Interaktionen so bewusst wir nur möglich wird; individuelle und soziale Zuschreibungen der Situation müssen aufgedeckt werden. Dann gilt es, den gleichen Vorgang bei unserem Gegenüber durchzuführen.  Nun kann der Sinngehalt der Intentionen und Handlungen in einer bestimmten Situation erkennbar werden. Letztlich ist dann auch Handeln im Sinne des zu Erziehenden möglich.

Deutlich wird nun auch, dass es darauf ankommt, nicht bei unbewussten Wahrnehmungen stehen zu bleiben, sondern diese durch eine Analyse der ihr zugrunde liegenden individuellen und sozialen Konstruktionen der Wirklichkeit und der in diesem Konstrukt ausgeführten symbolischen Interaktionen zu vervollständigen. Es geht also darum, sich ein Bild der nicht  sinnlich wahrnehmbaren Hintergründe als notwendige  Ergänzung der empirischen Wahrnehmung zu schaffen, um so an den Sinngehalt einer Situation heranzukommen. Anders gesagt: es geht darum ein wahrnehmbares Handeln eines  Menschen in einer spezifischen Situation zu komplettieren durch eine Imagination als „bewusster geistiger Prozess, bei dem im Geiste Vorstellungen oder Bilder von Objekten, Ereignissen, Beziehungen, Eigenschaften oder Prozessen entstehen, die nicht gegenwärtig sind…“[5] Nach der Wahrnehmung eines Menschen in einer Situation gilt es, die der Begegnung zugrundeliegende Konstruktion der Wirklichkeit analytisch zu de-konstruieren, um sie dann in einer Synthese verbunden mit einem Sinngehalt als Vorstellung wieder zu re-konstruieren, um nun in angemessener Weise handeln zu können.

Elemente zu einer Konzeption identitätsgestaltenden Unterrichts

Konkretisiert führen diese Fragestellungen zu einer projektorientierten Konzeption identitätsgestaltenden Unterrichts, die folgende Merkmale berücksichtigen muss:

·      Die SchülerInnen sind Subjekt, nicht Objekt des Lernprozesses. Der Unterricht muss der Subjektivität des Lernens Möglichkeiten bieten.

·      Der Lehrer/die Lehrerin muss die Subjektivität des Lernens stets berücksichtigen und kann deshalb linear-direkte Lehrformen nicht als grundlegende Unterrichtsidee einplanen.

·      Am Anfang eines jeden Lehr- und Lernprozesses muss immer ein Problem stehen, das in möglichst enger Beziehung zur erkannten, angenommenen oder aufgedeckten Identität der SchülerInnen steht.

·      Im Unterricht müssen effektive und effiziente Problemlösungshilfen antizipiert und bereitgestellt werden; allerdings muß auch größtmögliche Offenheit für unerwartete Lösungsansätze herrschen. Lernhilfen müssen immer Hilfe zur Selbsthilfe sein.

·      Problemlösendes Vorgehen bedeutet, den Zugang zu Primärerfahrungen soweit wie möglich offenzuhalten. Soweit es notwendig ist, Modellkonstruktionen der Wirklichkeit einzusetzen, sollen diese die direkten Erfahrungen nicht ersticken, sondern sie erleuchten und zu einem besseren Verständnis des Problems beitragen.

Geben wir der Schule ein Gesicht, das unserer Zeit angemessen ist. Ich stimme Neil Postman zu, dass viele unserer modernen „Erzählungen“ – N.P. meint damit das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft, das was als gemeinsame Geschichte, Haltung, Meinung der Mehrheit aufgefasst wird –  keine tragfähige Substanz für das Zusammenleben von uns Menschen in der heutigen Zeit haben. Nützen wir unsere Chance, neue, sinnstiftende Mythen  zu finden und mit ihnen menschengerecht umzugehen. Gestalten wir im Sinne von Josef Beuys die Schule als „soziale Skulptur“!


[1] vgl. Korinek, W.: Struktur und Verhalten. Zur Begründung und Durchführung systemischer Organisationsentwicklung in der Schule unter dem Blickwinkel erkenntnistheoretischer Ansätze. Diss. Universität Tübingen (1997), S. 21 ff.

[2] vgl. dazu: Korinek, W.: Visionen zu pädagogischen Zielen systemischer Schulentwicklung. In: Schul-Management. Die Zeitschrift für Schulleitung und Schulpraxis 29. Jg. Heft 5/1998, S. 18 ff.

[3] vgl. dazu: Searl, J.R.: Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Zur Ontologie sozialer Tatsachen (1997)

[4] vgl. dazu die Prämissen des symbolischen Interaktionismus bei: Blumer, H.: Der methodologische  Standort des symbolischen Interaktionismus. In: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Bd. I: Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie. 14. Aufl., S. 16-42

[5] „Imagination“, Microsoft® Encarta® 99 Enzyklopädie.

Text und Fotos: © W. Korinek (2011)

Welche Lehrer brauchen Kinder?

Ein Kind braucht

·        feste Bezugspersonen, zu denen es ein hohes Maß an Vertrauen haben kann,

·        ein Bild von sich selbst, das ihm positiv erscheint und

·        die Zuversicht, sich diesem Persönlichkeitsbild annähern zu können.

Als erstes ist zu fragen, was eine feste Bezugsperson im schulischen Rahmen ausmacht. Bezugsperson sein bedeutet im ersten Zugriff, ein Mensch zu sein, zu dem eine Beziehung besteht. Der Begriff bezieht sich also nicht nur auf eine Person, sondern auf die Art des Kontakts zwischen mindestens zwei Menschen. Bezugsperson im Feld der Schule zu sein, heißt also, sich anzubieten und das seine dazutun, damit eine förderliche Beziehung zwischen LehrerIn und den Schülern entsteht. Die weitere Forderung nach einer festen Bezugsperson muss ebenfalls näher betrachtet werden. „Fest“ kann bedeuten, dass sie im zeitlichen Sinne von anhaltend, nachhaltig, dauerhaft bestehen soll. „Fest“ kann aber auch meinen, dass die Person verlässlich, standhaft, stark, unerschütterlich  sein soll. Gemeint sind sicherlich beide Bedeutungen, wenn von einer pädagogischen Bezugsperson gesprochen wird.

Weiter ist die Frage nach dem Selbstbild des Kindes zu untersuchen. Insbesondere ist zu fragen, wie die Schule dazu beitragen kann, dass ein positives Selbstkonzept entstehen kann. Neuere Forschungen zeigen hierbei eindeutig, dass Unterrichtskonzepte, die über kognitives Verstehen oder durch direktes Vermitteln wollen von Haltungen und Werten funktionieren, nichts bewirken.[1] Möglichkeiten bieten dagegen handlungs- und erfahrungsorientierte Ansätze, die – abhängig vom Alter der SchülerInnen – durch wertanalytische Schritte ergänzt werden. Erziehung zu einem positiven Selbstkonzept muss demnach als unterrichtliches Prinzip aufgefasst werden, das Auswirkungen hat sowohl auf die methodisch-didaktische Gestaltung des Unterrichts wie auch auf die schulorganisatorischen Rahmenbedingungen im Sinne pädagogischer Arrangements. Klar gesagt bedeutet dies: Die in einer Schule tätigen Lehrkräfte müssen in der Lage sein, den Schülerinnen und Schülern Bilder zur Gestaltung ihrer Persönlichkeit anzubieten, sie müssen „Vor-Bilder“ setzen können und die Schule muss den schützenden Rahmen schaffen, dass die Kinder Vorbilder annehmen, auf sich selbst beziehen und handelnd erproben können.

Eine solche Schule bietet auch die Möglichkeit zur Erfolgszuversicht im Hinblick auf die Identitätsentwicklung der Schüler in Richtung auf ihre eigenständig gewählten Selbstkonzepte.

Nimmt man dieses Postulat ernst, würde dies erhebliche Konsequenzen für die Lehrerausbildung, – weiterbildung und Personalauswahl haben. Liegt bisher ein Schwerpunkt auf der didaktisch-methodischen Ebene würde nun ein Paradigmenwechsel hin zu einer weit stärkeren Betonung der personalen Elemente in der Lehrerpersönlichkeit erforderlich.

In meiner nun fast dreißigjährigen Erfahrung als Schulleiter und Aus- und Weiterbildner meine ich festgestellt zu haben, dass schon in der ersten Phase der Lehrerausbildung in den ersten beiden Semestern des Studiums der Grundstein gelegt wird.  Erfolgreiche und zufriedene berufliche Lehrkräfte bringen eine personale Disposition zu diesem Beruf mit, die zwar durch Aus- und Weiterbildung ausgebaut, aber nicht ersetzt werden kann.

Deutlich gesagt: Eine Persönlichkeit, die bestimmte – eine Definition würde die Möglichkeiten dieses Texts überschreiten – Persönlichkeitsmerkmale im Bereich kommunikativer Fähigkeiten, Selbstbewusstsein, Pflicht- und Verantwortungsbewusstsein, grundlegende Führungsqualitäten mitbringt, kann durch Studium, Referendariat in ihren Kompetenzen gestärkt werden – ein Mensch, der die grundlegende personale Befähigung nicht mitbringt, wird auch durch intensivste Aus- und Weiterbildung keine erfolgreiche und zufriedenstellende Berufslaufbahn erleben. Und vor allem, er wird seinen Schülerinnen und Schülern kein Vorbild im eingangs geschilderten Sinn abgeben können.

So gesehen ist der Grundsatz richtig: Wir brauchen die besten jungen Menschen in der Schule. Aber ähnlich wie in der Ärzteausbildung käme es nun auch in der Praxis der Ausbildung und Einstellung von Pädagogen darauf an, dies unter dem Aspekt der Brauchbarkeit in der schulischen Praxis unter der Priorität der personalen Kompetenzen anzuschauen.

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[1] vgl. Korinek, W.: Struktur und Verhalten. Zur Begründung und Durchführung systemischer Organisationsentwicklung in der Schule unter dem Blickwinkel erkenntnistheoretischer Ansätze. Diss. Universität Tübingen (1997), S. 21 ff.

Text und Fotos: © W. Korinek (2011)

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