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Modell „Differenzierte Realschule“ in Baden-Württemberg

Angesichts der gravierenden Änderungen im baden-württembergischen Schulsystem entwickelte ich gemeinsam mit meinen Kollegen im Vorstand des Bündnisses pro Bildung BW e.v. eine Konzeption zur Weiterentwicklung des bewährten differenzierten Schulwesens (vgl Positionspapier weiter unten).

Ergänzend zu gymnasialen Schulwegen schlagen wir vor, äußere Differenzierungen als eigenständige Schulen einrichten.

  • Beispiel: „X-Schule. Realschule mit kaufmännisch-sprachlichem Profil“ oder „Y-Schule. Realschule mit technisch-gewerblichem Profil“ oder Z-Schule. Realschule mit allgemeinbildend-sprachlichem Profil“

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  • Diese Differenzierungen führen formal zu den gleichen Abschlüsse (qualifizierter HS-Abschluss oder „Ausbildungsreife Basis“ nach Klasse 9, „Gehobene Ausbildungsreife“ (d. h. Mittlere Reife nach Klasse 10) – allerdings bei deutlich unterschiedlichen Profilen.
  • Profile könnten z. B. sein: gewerblich-technische Ausbildungsreife, sozialpflegerische Ausbildungsreife, kaufmännisch-sprachliche Ausbildungsreife oder allgemein-sprachliche Ausbildungsreife.
  • Ziel ist nach Klasse 9 eine „Ausbildungsreife Basis“ und nach Klasse 10 eine „gehobene Ausbildungsreife“ für leistungsstärkere Schüler. Schwächere Schüler sollen in einem differenzierten Bildungsgang auch erst nach Klasse 10 die Ausbildungsreife Basis ablegen können.

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  • Schüler, die aufgrund von Behinderungen dem Bildungsgang der Differenzierten Realschule nicht oder teilweise nicht folgen können, müssen entsprechend der UN-Konvention durch ein sorgsam auf das einzelne Kind abgestimmte Hilfesystem in einem integrativ ausgerichteten Sonderschulsystem, das durch inklusive Systeme ergänzt wird, wirkungsvoll gestützt und auf die Teilhabe an unserer Gesellschaft vorbereitet werden.
  • In einem derartigen Schulmodell könnten die über Jahrzehnte erworbenen besonderen Qualifikationen der Schulen und Lehrkräfte im bisherigen differenzierten Schulmodell in doppelten Wortsinn aufgehoben werden. Einerseits würden diese Kompetenzen bewahrt und könnten sinnvoll weiterentwickelt werden, andererseits könnte in differenzierter Weise die Leistungsfähigkeit der bisherigen Hauptschulen, Werkrealschulen und Realschulen angehoben und gesteigert werden.
  •  Die differenzierte Realschule ist charakterisiert durch
    ➔ klare Zielorientierung,
    ➔ eine leistungsorientierten Bildungslandschaft
    ➔ und Profilbildung.

Positionsbestimmung (verfasst als Positionspapier für das Bündnis pro Bildung Baden-Württemberg e.V.)

 Die gegenwärtige Bildungspolitik in Baden-Württemberg ist durch eine Reihe von neuen Entwicklungen gekennzeichnet:

  •  Das bewährte differenzierte Schulsystem wird zu Gunsten der Idee der Gemeinschaftsschule zunehmend aufgelöst.
  • Die neue Schulart wirbt mit Versprechen nach leichter Erreichbarkeit von hohen Bildungsabschlüssen um Schüler und Eltern, ohne dass ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis gestellt worden wäre.
  • Das Schlagwort des „individuellen Lernens“ gaukelt vor, dass die Erreichbarkeit von schulischen Qualifikationen möglich ist, indem Schüler nach ihren Neigungen und in ihrem individuellen Lerntempo selbstorganisiert  mit Unterstützung von Lernbegleitern lernen.
  • Die Schule wird mehr und mehr von der Bildungseinrichtung zum Instrument des „Social Engineering“, mit dem ideologische Sichtweisen gesellschaftlich durchgesetzt werden.

Diese Entwicklung erscheint uns hoch problematisch. Bewährte Strukturen werden aufgelöst und durch Experimente ersetzt, deren Wirksamkeit wissenschaftlich fragwürdig sind. Es erscheint uns als Bündnis pro Bildung deshalb unabdingbar, die gesamte Diskussion um die Schule zu versachlichen und zu entideologisieren. Politische und wissenschaftliche Prämissen, die in den 60er- und 70er-Jahren entwickelt wurden und seitdem zur Leitidee der Bildungspolitik wurden, müssen sichtbar gemacht werden.

Der Begriff der „Bildung“ wurde ersetzt durch die Beschreibung der angeblichen Erfordernisse einer Informations- und Wissensgesellschaft. Das bedeutet, dass die Schule keinen Kanon an Wissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten mehr zu vermitteln hat, sondern „Kompetenzen“. Das bedeutet in der Konsequenz eine Verengung auf die verwertbare Beschreibungen von Fähigkeiten, in einem bestimmten Bereich Dinge tun zu können. Das Modell einer Allgemeinbildung wird als veraltet dargestellt.

Eng verbunden damit ist die Grundidee der „Individualisierung“ als neue Leitidee von Schule. Ausgangspunkt ist die Aussage, dass die Schule sich dem Entwicklungsstand, dem Leistungsvermögen, den Interessen jedes einzelnen Kindes anpassen soll. Methodisch soll dies durch „Innere Differenzierung“ und „Individualisierung“ umgesetzt werden.  Die Idee des „Lernbegleiters“, des „Unterrichtscoachs“, ist die logische Fortsetzung dieser Grundidee. Dabei verlieren die vorgegebenen Lehr- und Lernziele ihre Wertigkeit, denn jeder Schüler erhält nach diesem Konzept seinen eigenen Bildungsplan. Beurteilt wird nicht die Zielerreichung, sondern der individuelle Lernfortschritt. Das neue Zauberwort heißt „Zieldifferentes Lernen“.  Es gibt kein Lernen in einer Lerngemeinschaft an einem verbindlichen Lerngegenstand mehr. Individuelle Förderung im Sinne einer effektiven Unterstützung durch eine kompetente Lehrkraft, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, ist ebenfalls Schnee von gestern. Damit ist natürlich auch jede Leistungsbeurteilung, die sich an objektiven Zielen bemisst, unmöglich. Beobachtet und rückgemeldet werden nur noch die Lernfortschritte auf der Basis des letzten Standes jedes einzelnen Schülers. Was bedeutet das Anderes, als den endgültigen Abschied vom Leistungsprinzip in der Schule?

Die Gemeinschaftsschule ist die konsequente Umsetzung dieser gesellschaftlichen und pädagogischen Konzepte. Nicht ohne Grund wird von ihren Befürwortern von einem Paradigmenwechsel schulischen Lernens, ja von einer „Neuen Pädagogik“ gesprochen.

Die Diskussionen über die Gestaltung des Schulwesens in Baden-Württemberg bedarf wieder der Tiefe und des intellektuellen Niveaus auf welcher die Väter der Verfassung sich des Themas Bildung und Erziehung angenommen haben. Es geht nicht darum, ob Eltern eine bestimmte Schulart wie die Werkrealschule akzeptieren oder nicht. Es geht darum, den Verfassungsauftrag umzusetzen, nachdem jeder Mensch, ohne Rücksicht auf Herkunft oder wirtschaftliche Lage das Recht auf eine seiner Begabung entsprechende Erziehung und Ausbildung hat.

Ansatzpunkte zur bildungspolitischen Neustrukturierung

Angesichts der Einführung der Gemeinschaftsschule als bildungspolitisches Anliegen der grün-roten Landesregierung, möchten wir einen Ansatz für ein Gegenmodell zur Einheitsschule in die Diskussion zu bringen.

Grundsätzlich möchten wir vorausschicken, dass das Kernproblem nicht die Anzahl der Säulen darstellt, sondern es stellt sich die Frage, ob und wie es gelingt, die Schullandschaft in einer solchen Differenziertheit zu erhalten und sogar auszubauen, dass die Schulen oder Schularten:

  1. von ihrem Bildungsziel her definiert sind,
  2. der Leistungsgedanke wieder zum maßgeblichen Faktor schulischen Tuns wird,
  3. alle Schulen ein klares, zielorientiertes Profil haben,
  4. Schüler in ihrem Bemühen zur Erreichung dieser Ziele effektiv gefördert werden sollen und können,
  5. und damit das Recht jedes jungen Menschen ohne Rücksicht auf Herkunft oder wirtschaftliche Lage auf eine seiner Begabung entsprechende Erziehung und Ausbildung durch eine entsprechende Ausstattung der Schulen sichergestellt wird.

Keine Organisation, kein Unternehmen – und auch kein Schulsystem –  ist ohne klare Zielsetzungen und einer diesem Profil untergeordneten Kultur und Ausstattung überlebensfähig. Die Konstruktion der Individualisierung nach dem Motto der Kindorientierung als alleinige Zielsetzung ist nicht tragfähig.

Als zielorientiertes Gegenmodell zur individualisieren Einheitsschule müssen deshalb Modelle einer differenzierten und profilierten Ausbildungsreife stehen.

Deshalb schlägt das Bündnis pro Bildung folgende Schritte zum Erhalt und zur Weiterentwicklung einer differenzierten Schullandschaft vor:

  1. Aufbauend auf dem Modell einer einheitlichen Grundbildung in den Grundschulen bedarf es in der Sekundarstufe I einer differenzierten Schullandschaft, die sich in ihren unterschiedlichen Profilen sowohl den Schülern, den örtlichen Verhältnissen wie auch den Bedürfnissen unserer Gesellschaft verpflichtet sieht.
  2. Neben dem Gymnasium genießt die Realschule nach wie vor in der Bevölkerung und in der Wirtschaft eine hohe Akzeptanz und verfügt über eine nachgewiesene hervorragende Leistungsfähigkeit. Deshalb bildet sie in unserem Modell die Grundlage einer in sich differenzierten nicht-gymnasialen Säule des Schulwesens. Allerdings ist sie durch den großen Zulauf von Schülern, die nicht dem traditionellen Profil dieser Schulart entsprechen, mehr und mehr überfordert.
  3. Abhilfe könnte eine Schulstruktur bieten, die analog zu Profilbildungen im beruflichen Schulwesen äußere Differenzierungen als eigenständige Schulen vorhält. Beispiel: „X-Schule. Realschule mit sprachlich-künstlerischem Profil“ oder „Y-Schule. Realschule mit beruflichem Profil“.
  4. Diese Differenzierungen müssen formal zu den gleichen Abschlüsse (qualifizierter HS-Abschluss oder „Ausbildungsreife“ nach Klasse 9, Mittlere Reife nach Klasse 10) führen, allerdings bei deutlich unterschiedlichen Profilen. Profile könnten z. B. sein: allgemeine Ausbildungsreife mit sprachlich-künstlerischem Schwerpunkt oder eine Ausbildungsreife mit beruflichem Schwerpunkt bei jeweiliger Binnendifferenzierung in gewerblich-technische Ausbildungsreife, sozialpflegerische Ausbildungsreife, kaufmännisch-sprachliche Ausbildungsreife.
  5. Schüler, die aufgrund von Behinderungen dieses Ziel nicht erreichen können, müssen entsprechend der UN-Konvention durch ein sorgsam auf das einzelne Kind abgestimmte Hilfesystem in einem integrativ ausgerichteten Sonderschulsystem, das durch inklusive Systeme ergänzt wird, wirkungsvoll gestützt und auf die Teilhabe an unserer Gesellschaft vorbereitet werden.

In einem derartigen Schulmodell könnten die über Jahrzehnte erworbenen besonderen Qualifikationen der Schulen und Lehrkräfte im bisherigen differenzierten Schulmodell in doppelten Wortsinn aufgehoben werden. Einerseits würden diese Kompetenzen bewahrt und könnten sinnvoll weiterentwickelt werden, andererseits könnte in differenzierter Weise die Leistungsfähigkeit der bisherigen Hauptschulen, Werkrealschulen und Realschulen angehoben und gesteigert werden.

Damit wären die Forderungen nach klarer Zielsetzung und Profilbildung erfüllt und gleichzeitig könnte unter deutlicher Absetzung vom Gemeinschaftsschulmodell eine attraktive bildungspolitische Alternative und Akzentsetzung erreicht werden.


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